Aktuelle Berichte
30. September 2010 - „Große Straßen locken mehr Autos an als die Stadt verträgt“

Der TU-Verkehrsexperte Gerd-Axel Ahrens warnt vor einer Politik, die sich zu sehr an den Wünschen der Autofahrer orientiert.Das Ende der Politik einer autogerechten Stadt fordert der Verkehrsexperte der TU Dresden, Gerd-Axel Ahrens. Der Professor leitet den Lehrstuhl für Verkehrs- und Infrastrukturplanung an der Dresdner Hochschule. Der renommierte Experte berät unter anderem das Bundesverkehrsministerium. Aktuell leitet Ahrens den wissenschaftlichen Beirat der Stadt Dresden, der Verwaltung und Politik zur Zukunft des Verkehrs berät.

Herr Ahrens, hat Dresden ein Verkehrsproblem?

Nein und Ja. Für Autofahrer und ÖPNV-Nutzer herrschen hier geradezu paradiesische Zustände. In keiner anderen deutschen Großstadt mit einer halben Million Einwohnern kommen Sie so schnell mit dem Auto voran. Doch genau darin liegt auch ein Problem Dresdens. Der Fetisch, schnell durch die Stadt zu kommen, geht zulasten der Sicherheit, der Umwelt und der anderen Verkehrsteilnehmer.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Nehmen Sie die A 17. Sie dient auch dazu, die Stadt vom Durchgangsverkehr zu entlasten. Doch mit dem Auto kommen Sie dank großzügiger und zu schnell zu befahrender Straßen oft von Klotzsche schneller durch die Stadt nach Goppeln als über die Autobahn.

Was ist da schiefgelaufen?

Erstens: Der Stadt fehlt ein akzeptiertes Verkehrskonzept als Grundlage für widerspruchsfreies zielorientiertes Handeln. Es gibt einen Verkehrsentwicklungsplan von 1994, von dem konkrete Beschlüsse des Stadtrats aber abweichen. Zweitens: Es gibt eine nicht mehr zeitgemäße Förderpolitik. Geld gibt es vom Land offensichtlich nur, wenn eine Straße durch den Bau schneller, größer und breiter wird. So wird „Verbesserung von Verkehrsverhältnissen“ zu eng interpretiert.

Was ist daran falsch? Der Zustand einer Straße soll sich doch durch die Sanierung verbessern.

Dieser Förderpolitik liegt kein ganzheitliches Konzept zugrunde. Wenn eine Stadt eine Umgehungsstraße baut, um damit bestimmte Bereiche zu entlasten, bekommt sie dafür Geld vom Land. Wenn sie anschließend die Straßen in dem entlasteten Bereich zurückbauen will, um zum Beispiel Rad- und Nahverkehr aufzuwerten, gibt es dafür aus dem Topf keinen Cent.

Wo ist das hier passiert?

Zum Beispiel beim Stadtzentrum und seinen Zufahrtsstraßen. Hier wurden und werden große vierspurige Straßen auf das Zentrum gefordert und gefördert. Diese werden natürlich auch genutzt, sie erzeugen zusätzlichen Verkehr. An den Nadelöhren am Eingang der Innenstadt hat das Staus zur Folge, weil das Zentrum diese Automengen nicht aufnehmen kann. So ist es auf der Nord-Süd-Achse Königsbrücker Straße – Carolabrücke – St. Petersburger Straße. Hier ist zum Beispiel der Albertplatz ein Nadelöhr. Wird die Königsbrücker jetzt vierspurig ausgebaut, kommen noch mehr Autos am Albertplatz an. Der kann das nicht mehr aufnehmen. Sie planen den neuen Stau. Die Faustregel lautet: Über Straßen kann nur so viel Verkehr fahren, wie die Kreuzungen verkraften.

Hier wird doch aber Entspannung durch die Waldschlößchenbrücke versprochen.

Das wird nur in Teilen passieren. Die Waldschlößchenbrücke wird ohne Gegenmaßnahmen eher für mehr Autoverkehr sorgen.

Warum das denn?

Die Brücke wurde vierspurig in einem Netz mit vielen Engpässen vorgesehen. Nach der Prognose ist nur etwa die Hälfte der über 40000 Autos auf der Brücke früher über andere Brücken gefahren, der Rest ist neuer Verkehr. Zur Entlastung anderer Brücken hätten meines Erachtens zwei Spuren gereicht.

Die Brücke wird jetzt aber vierspurig …

Genau. Dresden bekommt eine Brücke mit vier Spuren für 40000 bis 50000 Autos pro Tag. Die Berechnungen zeigen, dass dann mehr Autos wieder durch die Stadt anstatt über die Autobahn fahren. Auch dem Nahverkehr werden Nutzer verloren gehen. Der Entlastungseffekt wird somit kaum eintreten können.

Was raten Sie hier der Stadt?

Ich empfehle, ein Bündel flankierender Maßnahmen zu entwickeln, mit denen eine Zunahme des Autoverkehrs verhindert werden kann. Wir dürfen nicht Fehler westdeutscher Städte aus den 1960er- und 1970er-Jahren mit Planung und Bau autogerechter Lösungen wiederholen, die dort schon in den 1980er-Jahren erkannt wurden und seitdem mühevoll beseitigt werden.

Welche Fehler zur Lösung der Verkehrsprobleme gibt es hier?

Ich denke spontan an den 26er-Ring. Dieser wurde als Stadtring konzipiert. Aber er funktioniert nicht als solcher. Ein Stadtring, wie in Leipzig zum Beispiel, hat die Funktion, den auf das Zentrum zuströmenden Verkehr um die Innenstadt zu leiten. Wer in die Innenstadt will, stellt sein Auto am Ring ab und geht zu Fuß. Dazu muss der Bereich innerhalb des Rings aber deutlich kleiner sein als hier in Dresden. Niemand stellt sein Auto irgendwo am Ring ab, um noch zwei Kilometer zum Ziel zu laufen.

Aber was ist denn jetzt genau falsch am 26er-Ring?

Verteilerringe in der Stadt sind grundsätzlich richtig, damit auf kurzen direkten Wegen durch empfindliche Stadtgebiete die Ziele erreicht werden. Als Zentrumsring hat der 26er-Ring allerdings einen viel zu großen Durchmesser. Auch seine Knotenpunkte sind nicht leistungsstark. Er eignet sich nicht als Ausgangspunkt für periphere Stellplätze. Er hat viele querende Abkürzungen, sodass der Verkehr nicht auf dem Ring bleibt. Folgen sind ein voller Dr.-Külz-Ring und ein leerer Wiener Tunnel.

Wie löst man das Problem?

Ideal wären enger geführte Ringe für die drei Bereiche Altstadt, Prager Straße und innere Neustadt, wie sie nach dem neuen Leitbild Innenstadt definiert wurden. Allerdings sind kaum Möglichkeiten für neue Straßen gegeben. Sehr viele zentrale Parkplätze locken schätzungsweise mehr als 50 Prozent der Kunden mit dem Auto in die Stadt. Im Städtevergleich ist der Anteil sehr hoch und führt zur langen Parkplatzsuche. In vielen westdeutschen Städten wurde über eine strenge Parkraumbewirtschaftung erreicht, dass die meisten Kunden mit Bus und Bahn kommen. In Dresden ist das Angebot dafür sehr gut. Doch das gute Parkplatzangebot und die moderaten Parkgebühren sind kein Grund, umzusteigen. Eine autoarme Innenstadt kann nur funktionieren, wenn sichergestellt ist, dass Anwohner und Lieferverkehr an ihr Ziel kommen.

Sie beraten gerade die Verwaltung und den Stadtrat beim Erstellen eines neuen Verkehrsentwicklungsplans 2025. Worum geht es da?

Wir wollen gemeinsam mit Vertretern aus Politik, Verwaltung, Wissenschaft und den Lobbygruppen den Rahmen für den Verkehr der Zukunft abstecken.

Was sind Ihre Maximen dafür?

Es gilt, die heutige Qualität an Infrastruktur zu erhalten und zu verbessern, die Straßen deutlich sicherer zu machen und allen Dresdnern ihre Mobilität zu sichern und zu verbessern. Es geht um einen effektiven, aber auch stadtverträglichen und umweltschonenden Verkehr.

Was ist für diese Vision vom Verkehr der Zukunft zu tun?

Zuerst muss der Rahmen aus klaren Zielen stehen, ehe man konkrete Konzepte und Einzelmaßnahmen entwickeln kann. Wichtig ist, dass der Plan dann nicht nur als Papier in Schubladen liegt, sondern akzeptierter Rahmen für alle späteren konkreten Entscheidungen ist.

Gut. Erklären Sie den Rahmen.

Oberstes Ziel muss sein, Erreichbarkeiten und Mobilität mit deutlich weniger Unfällen ohne Grenzwertüberschreitungen zu sichern. Das heißt, nicht mehr Autoverkehr zu induzieren. Wir müssen den notwendigen Verkehr sichern, den wachsenden Freizeitverkehr, der 60 Prozent ausmacht, umweltgerechter abwickeln. Stichwort: Stadt der kurzen Wege. Auch 60 Prozent aller Wege sind kürzer als fünf Kilometer, die oft effektiver ohne Auto erledigt werden können. Alternativen müssen hier gestärkt werden.

Wie?

Radverkehr ist kein Übel. Ihn zu fördern, bringt Entlastung auf den Straßen. Wir müssen den Nahverkehr weiter modernisieren und individualisieren. Autofahrer müssten froh über einen schnellen ÖPNV sein, weil dann weniger Autos fahren und man schneller vorankommt. Dresdens Autofahrer klagen auf hohem Niveau. Wer mal zwei Rotphasen warten muss, klagt gleich über Stau. Tatsächlich hat der ÖPNV-Vorrang die Wartezeiten des Kfz-Verkehrs an vielen Stellen reduziert. Früher mussten für Bus und Bahn bei jedem Umlauf der Ampeln längere Schutzzeiten vorgesehen werden, heute nur , wenn Bus oder Bahn Grün anfordern.

Aber was heißt „ÖPNV individualisieren“?

Radverleih und Autoverleih könnten Bestandteil des ÖPNV werden. Mit einem elektronischen Ticket könnte ich dann vom Bus aufs Fahrrad oder aufs Auto umsteigen, das ich überall wieder abstellen kann. Paris schafft zum Beispiel gerade 3000 öffentliche Autos an. Hier könnte Dresden deutsche Modellstadt werden. Doch das braucht eine starke fachliche Führung in Verkehrsfragen. Dresden hat für mich das Potenzial, europaweit beispielgebende Stadt zu werden. Dafür gibt es derzeit auch hervorragende Chancen für EU-Millionen. Gesundheit und Sicherheit werden künftig in der Verkehrsplanung wichtiger als hohe Kfz-Geschwindigkeit sein.

Gespräch: Denni Klein

Sächsische Zeitung, 28. September 2010